Zirkuspädagogik

Eine wissenschaftliche Annäherung von Sophia-Marie Luftensteiner

„Zirkus assoziiert eine besondere Welt, in der scheinbar alles möglich ist.
Es ist ein Raum für Unkonventionelles, in dem man anders sein darf, als es im Alltag erwartet wird.
Hier kann man in andere Rollen schlüpfen, der Kreativität freien Lauf lassen.
Im Zirkus ist Platz für verrückte Ideen und außergewöhnliches Können.“ (Behrens 2007: 7)

„Ich möchte mit einem Zirkus ziehn“ ist der Traum vieler Kinder, wenn sie von einer Zirkusvorführung nach Hause gehen.
Noch gebannt von der Faszination Zirkus, spielen sie zu Hause die Kunststücke der Artist*innen und die Gags der Clown*innen nach.
Der Gartenschlauch wird so zum Hochseil umfunktioniert, die Äpfel aus der Küche als Jonglierbälle genutzt und der Wohnzimmertisch kann schon mal zum Podest des Zirkuslöwen werden. (Vgl. Behrens 2007: 8)

„Die Zirkuswelt mit ihrem exotischen Flair übt eine fast magische Anziehungskraft auf Kinder aus. Aber auch Jugendliche – das zeigt sich in der Praxis immer deutlicher – fühlen sich von den artistischen Körper- und Bewegungskünsten, wie sie im Zirkus geübt werden, mehr und mehr angezogen.
Während Kinder zunächst Zirkus spielen, indem sie Seiltänzerinnen, Dompteure und Clowns darstellen, wollen Jugendliche das Jonglieren oder akrobatische Kunstfertigkeiten erlernen, um es dann vor Publikum zu präsentieren.
Der pädagogische Wert des „sanften Abenteuers“ Zirkus liegt in der Erziehung zur Selbsterziehung.“ (Kiphard 2007: 6)

Genau hier setzt die Zirkuspädagogik an.
Es geht ihr jedoch nicht darum, wie Kinder nach einer Aufführung, Zirkus zu spielen, sondern selbst Zirkus zu machen.
Ziel der Zirkuspädagogik ist dabei nicht, eine leistungsorientierte Nachwuchsförderung zu gewährleisten und professionelle Arist*innen auszubilden.
Die persönliche Entwicklung des Einzelnen steht im Vordergrund. (Vgl. Behrens 2007: 15)

Frei nach Hartmut von Hentig könnte man sagen: Es geschieht keine Erziehung für den Zirkus, sondern eine Erziehung durch den Zirkus.
„Zirkuspädagogik zielt darauf ab, Zirkuskünste lehrbar zu machen und pädagogisch sinnvoll einzusetzen.“ (Grabowiecki/Lang 2007: 27)
Zirkuspädagogik nimmt so auf vielfältige Weise Einfluss auf junge Menschen: Körperlicher Ausdruck und Kreativität werden genauso gefördert wie Verantwortungsbewusstsein und Teamfähigkeit.
Zirkuspädagogik wirkt nach Grabowiecki und Lang auf einer körperlichen, individuellen, sozialen, ästhetisch-künstlerischen und kulturellen Dimension.
Zirkuspädagogische Arbeit setzt also auf unterschiedlichen Ebenen an und „bietet damit das so oft geforderte Lernen mit Kopf, Herz und Hand.“ (Busse 2007: 51)


Entstehung der Zirkuspädagogik

Die Entstehung der Kinder- und Jugendzirkusbewegung lässt sich historisch auf folgende Begebenheiten zurückführen:
„Boys-Town“, ein Projekt für verwaiste Jungen in Nebraska, wird heute oftmals als der erste Kinder- und Jugendzirkus bezeichnet.
Als das Projekt unter der Leitung des US-amerikanischen Paters Flanagan in den 1920er Jahre in finanzielle Engpässe geriet, gründete der Pater gemeinsam mit den Jungen aus dem Heim einen Zirkus, um Geld zu verdienen. (Vgl. Busse 2008: 52; Zacharias 2000: 20; Zühlke 2010: 7)
Nach dem Vorbild von „Boys-Town“ gründete Jesuitenpater de Silva in den 1950ern das Kinderheim „Bemposta“ für Straßenkinder in Galizien.
1966 starteten sie mit dem Kinderzirkus ‚Los Muchachos‘, um Geld für das Heim einzuspielen.
Pater de Silva war viele Jahre in der Zirkusseelsorge tätig und konnte so auf einige Zirkuserfahrungen zurückgreifen.
Das Kinderzirkusprojekt ‚Los Muchachos‘ wurde weltweit bekannt.

Neben den beiden Beispielprojekten „Boys-Town“ und „Bemposta“, nutze auch der Zirkus „Elleboog“ aus Amsterdam die Anziehungskraft des Zirkus, um in der Nachkriegszeit Kinder und Jugendliche von der Straße zu holen. (Vgl. Winkler 2007: 26)
Der Zirkus „Elleboog“ feierte 2009 sein 60. Jubiläum (Vgl. Zühlke 2010: 7). Heute existiert er leider nicht mehr.

Die vorgestellten Projekte entwickelten die Idee des Kinderzirkus aus einem sozialpolitischen Ansatz heraus, Kinder von der Straße zu holen und ihnen ein neues zu Hause zu geben. (Vgl. Busse 2008: 52; Winkler 2007: 26)

Die Kinder- und Jugendzirkusbewegung in Deutschland entwickelte sich in den 1970ern und 80ern ebenfalls aus sozialpolitischem Interesse heraus.
Hinzu kamen jedoch verstärkt auch erlebnispädagogische Aspekte und das Interesse an einer neuen Bewegungskultur. (Vgl. Busse 2008: 53; Zühlke 2010: 7)
Reformbestrebungen im Sportunterricht waren zudem wichtige Faktoren für die Entwicklung von Kinder- und Jugendzirkussen in Deutschland.
Außerschulisch kam außerdem die Entwicklung einer neuen Kulturpädagogik hinzu. (Vgl. Zühlke 2010: 7)
Während die Zirkusprojekte der 1970er und 1980er Jahre noch auf Einzelinitiativen von einzelnen Engagierten zurückzuführen sind, gab es in den 90ern bereits institutionalisierte Zirkusstrukturen und vermehrt anerkannte Handlungsfelder im pädagogischen Bereich.

Die Zirkuspädagogik hat sich in den vergangenen 20 Jahren nochmals massiv weiter entwickelt und als pädagogisches Moment in der Kunst- und Kultursparte etabliert.
Viele Kinderzirkusse aus dem Boom der 90er Jahre feiern gegenwärtig 20-jährige Jubiläen und blicken bereits auf ein kleines Stück Kinder- und Jugendzirkusgeschichte zurück. (Vgl. Busse 2008: 53)


Zirkuspädagogik heute

Zirkuspädagogik hat heute zahlreiche Schnittstellen mit unterschiedlichen pädagogischen Fachbereichen und Einflüsse aus der Erlebnis-, Sport-, Spiel-, Theater- und Sozialpädagogik.

Ähnlich heterogen wie das Feld der professionellen Zirkusse ist auch das Feld der Zirkuspädagogik.
Die Angebote reichen von Zirkusanimationen bei Kinderfesten über Zirkusworkshops in den Ferien bis hin zu langfristig angelegten Zirkusgruppen.
Bei Zirkusanimationen oder Tagesprojekten können Kinder und Jugendliche in der Regel unterschiedliche Zirkusdisziplinen kennen lernen und im Anschluss in einer vorbereiteten Zirkusvorstellung kurz selbst auftreten.
Bei Kinderzirkusworkshops hingegen haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit innerhalb eines begrenzten Zeitraums (häufig eine Woche) in die Zirkuswelt einzutauchen.
Am Ende eines Workshops steht in der Regel eine große Zirkusvorführung auf dem Programm, zu der Freund*innen und Familie eingeladen sind.
Langfristig angelegte Kinder- und Jugendzirkusse arbeiten auf einer anderen Ebene.
Intensives Training, Gruppenprozesse und Aufführungen prägen diese Arbeit. (Vgl. Schnapp 2000: 111)

So unterschiedlich wie die Formen der Angebote sind, sind auch die Einsatzbereiche der Zirkuspädagogik.
Es gibt heute zahlreiche Schulzirkusprojekte, Zirkusprojekte in Kirchengemeinden, Behinderteneinrichtungen und Sportvereinen, in der Sommerferienbetreuung, in der Sprachförderung und der Integrationsarbeit.
Zirkuspädagogische Arbeit wird zudem auch in der Rehabilitation und Geriatrie, sowie in der heilpädagogischen Arbeit eingesetzt.
Unabhängig von der körperlichen Verfassung, gesellschaftlichen Stand, Herkunft oder Alter (3 - 100 Jahre) kann Zirkuspädagogik in der Arbeit mit unterschiedlichen Zielgruppen eingesetzt werden. (Grabowiecki / Lang 2007: 29)


Zirkus ist Vielfalt – Circus is diversity

Communication (Kommunikation)
Imagination (Phantasie)
Responsibility (Verantwortungsbewusstsein)
Concentration (Konzentration)
Understanding (Verständnis)
Sensitivity (Empfindungsvermögen) (Ward 2000: 92)

Zirkus ist bunt und vielfältig.
Wie das Buchstabenspiel von Steve Ward deutlich macht berührt die zirkuspädagogische Praxis viele unterschiedliche Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen.


Literaturverzeichnis:

Ballreich, Rudi; Grabowiecki, Udo von; Lang, Tobias [Hrsg.] (2007): Zirkus spielen. Ein Handbuch für Zirkuspädagogik Artistik und Clownerie. (3. Komplett überarbeitete und ergänzte Auflage). Stuttgart: Hirzel Verlag.

Behrens, Eddy (2007): Aspekte der Zirkuspädagogik. In: Winker, G. [Hrsg.]: Zirkuspädagogik. Versuche einer Standortbestimmung. Zeitschrift für Erlebnispädagogik, Heft 11/23. Lüneburg: Verlag Edition Erlebnispädagogik, 7-15.

Busse, Nicole (2008): Der Kinder- und Jugendzirkus als Erlebnispädagogischer Lern- und Erfahrungsort. Theoretische Hintergründe – Praxisbeispiel ‚Circus Mignon‘ (Hamburg) – Kritische Reflexionen. In:Zeitschrift für Erlebnispädagogik Heft 6, Juni, 28.Jahrgang. Lüneburg: Verlag Edition Erlebnispädagogik.

Kiphard, Erst Jonny (1997): Pädagogische und Therapeutische Aspekte des Zirkusspiels. In: Ziegenspeck, Jörg [Hrsg.]: Zirkuspädagogik. Grundsätze – Beispiele – Anregungen. Schriften – Studien – Dokumente zur Erlebnispädagogik. Band 16. Lüneburg: Verlag Edition Erlebnispädagogik, 14 -20.

Schnapp, Sibylle; Zacharias, Wolfgang [Hrsg.] (2000): Zirkuslust – Zirkus macht stark und ist mehr … Zur kulturpädagogischen Aktualität einer Zirkuspädagogik. Unna: LKD-Verlag.

Ward; Steve (2000): Soziale und erzieherische Aspekte des Zirkus. In: Kinder und Jugendzirkus Cabuwazi e.V. [Hrsg.] (2000): Dokumentation des Internationalen Kongresses der Kinder und Jugendzirkusse, Berlin. S. 67.

Winkler, Gisela (2007): Vom Zirkus zur Zirkuspädagogik. In Ballreich, Rudi; Grabowiecki, Udo von; Lang, Tobias [Hrsg.] (2007): Zirkus spielen. Ein Handbuch für Zirkuspädagogik Artistik und Clownerie. 3. Komplett überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Hirzel Verlag. S. 24 -27.

Zacharias, Wolfgang (2010): Zirkus ist mehr … Über die kulturelle, ästhetische, pädagogische Aktualität von Zirkuskultur und Zirkuslust. In: Schnapp, Sibylle & Zacharias, Wolfgang [Hrsg.] (2000): Zirkuslust – Zirkus macht stark und ist mehr … Zur kulturpädagogischen Aktualität einer Zirkuspädagogik. Unna: LKD-Verlag. S. 19 – 26.

Zühlke, Nina (2010): Abenteuer Zirkus. Grundlagen und Aspekte der Zirkuspädagogik. In: Erleben und lernen – Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen. Heft 6, Dezember, 18. Jahrgang (2010): Zirkus oder die Kunst der Bewegung. Augsburg: Ziel. S. 7 - 10.